„Religion gehört nicht ins stille Kämmerlein!“

Am 6. Juli 2023 (19:30 Uhr) nimmt die Pröpstin Henriette Crüwell, zusammen mit Vertretern des Islams und des Judentums am 17. Interreligiösen Gespräch im Großen Saal des Binger Kulturzentrums (Freidhof 11) teil. Im Zentrum der von der VHS-Bingen und dem Dekanat Ingelheim-Oppenheim organisierten Podiumsdiskussion steht in diesem Jahr die Frage „Ist Religion Privatsache?“. Im Folgenden steht die Theologin Rede und Antwort zu diesem kontrovers diskutierten Thema.

Hilke Wiegers:  Liebe Frau Crüwell, teilen Sie die Ansicht, dass Religion zukünftig nur noch etwas für das „stille Kämmerlein“ ist?
Pröpstin Henriette Crüwell: Religion ist eine Herzensangelegenheit, und als solche die private Entscheidung der Einzelnen. Aber damit ist die Religion nicht nur Privatsache. Wo immer Gesellschaften versucht haben, die Religion ins stille Kämmerlein und damit aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, da ging auch Freiheit und Vielfalt verloren. Religionen haben nämlich einen zutiefst emanzipatorischen Kern. Im Idealfall ermöglichen sie es den Menschen nämlich, die eigenen Horizonte zu erweitern und sich deutend zu dem zu verhalten, was sie hier und jetzt erleben. Denn sie rechnen ja mit einer Wirklichkeit, die das Eigene übersteigt. Religion ist als Herzensangelegenheit deshalb immer auch politisch. Wer die Anderen gerade in ihrem Anderssein als Ebenbild Gottes erkennt, kann sich nicht raushalten, wo ihre Freiheit und Würde verletzt wird. Wer unseren Planeten als Gottes Schöpfung deutet, kann nicht anders, als sich einzumischen, wenn es um Nachhaltigkeit und einen neuen für alle verträglichen Lebensstil geht.
 
„Ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Einzelne und als religiöse Institution, nach dieser Freiheit und Würde immer und immer wieder zu fragen, sie einzuklagen, wo sie missachtet wird und in all dem die Frage nach Gott in unserer Gesellschaft wachzuhalten, also den Horizont zu weiten.“
 
Hilke Wiegers: Und woher kommen dann die Stimmen, die eine Religionsausübung unter Ausschluss der Öffentlichkeit fordern?
Pröpstin Henriette Crüwell: In Deutschland sind nach wie vor über die Hälfte der Menschen religiös. Eine kleine, aber laute Minderheit verlangt nun heute wieder verstärkt von dieser Mehrheit, dass sie ihre Religion nicht öffentlich zum Ausdruck bringen darf, und der öffentliche Raum daher frei zu halten sei von religiösen Zeichen und Meinungsäußerungen. Damit fordert sie aber eine weltanschauliche Neutralität ein, die exkludierend ist, statt inkludierend dafür zu sorgen, dass jeder und jede in unserer Gesellschaft seinen bzw. ihren Platz hat und alle sich öffentlich als die zeigen können, die sie sind.
„Religionen stehen für das Wissen, dass die anderen in ihrem Anderssein eine Bereicherung und keine Gefährdung des Eigenen sein können.“
Hilke Wiegers: Die Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften ist in unserem Grundgesetz festgelegt. Frau Crüwell, Sie sind nicht nur Theologin, sondern auch Juristin, welche Funktion kommt Religion in unserer Demokratie noch zu?
Pröpstin Henriette Crüwell: „Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche“, so lautet die kurze und prägnante und bis heute aktuelle Definition des Theologen Friedrich Daniel Schleiermacher. Religiöse Menschen haben also einen weiten Horizont. Sie leben im Bewusstsein einer anderen Wirklichkeit, die das Eigene immer schon übersteigt und die unverfügbar ist. Religiöse Menschen sind geübt im Umgang mit diesem unverfügbar Anderen. In einer pluralistischen Gesellschaft wie der unseren, die sich immer weiter in lauter kleine selbstreferentiellen Blasen aufzulösen scheint, können Religionen deshalb einen wichtigen Beitrag leisten. Sie stehen nämlich für das Wissen, dass die anderen in ihrem Anderssein eine Bereicherung und keine Gefährdung des Eigenen sein können.
Hilke Wiegers: Können Sie ein Beispiel nennen?
Pröpstin Henriette Crüwell: Der von den Nationalsozialisten 1945 ermordete Theologe Dietrich Bonhoeffer sprach einmal von einem „Wächteramt der Kirche“. In einer Zeit, in der ein Regime an der Macht war, das bis in den letzten Winkel die Kontrolle über die Menschen haben wollte, sollte die Kirche im Namen Gottes diesem totalen Anspruch auf den Menschen entschieden entgegentreten und sich zur Anwältin jener machen, deren Freiheit und Würde missachtet werden. Ich meine, dass dieses Wächteramt eine neue Aktualität hat, nämlich als Wächteramt eines weiten Horizonts.
 
„Ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Einzelne und als religiöse Institution, nach dieser Freiheit und Würde immer und immer wieder zu fragen, sie einzuklagen, wo sie missachtet wird und in all dem die Frage nach Gott in unserer Gesellschaft wachzuhalten, also den Horizont zu weiten.“
 
Hilke Wiegers: Aber das mit dem Wächteramt, das hat ja auch einen durchaus negativen Beigeschmack. Können Sie das näher erläutern?
Pröpstin Henriette Crüwell: Ich bin mir bewusst, dass nicht wenige, wenn es um Religion geht, heute erstmal an jene religiösen Sittenwächter denken, die in anderen Kulturkreisen ihre Mitmenschen im Namen Gottes terrorisieren. Und es hält sich ja auch in unserer pluralen Gesellschaft nach wie vor hartnäckig der Vorbehalt den Religionen gegenüber, dass sie die Menschen nur kontrollieren und bevormunden wollen.  Darum aber ging es Bonhoeffer nicht. Im Gegenteil. Es ging ihm um die Bewahrung dieser Freiheit und Würde, die den Menschen als Ebenbild Gottes auszeichnet. Und ich glaube, es ist unsere Aufgabe als Einzelne und als religiöse Institution, nach dieser Freiheit und Würde immer und immer wieder zu fragen, sie einzuklagen, wo sie missachtet wird und in all dem die Frage nach Gott in unserer Gesellschaft wachzuhalten, also den Horizont zu weiten.
Hilke Wiegers: Hätten Sie da ein konkretes, vielleicht auch persönliches Beispiel, wo es sich als sinnvoll erwiesen hat, auch den Standpunkt der Religionen zu hören?
Pröpstin Henriette Crüwell: Auf dem Kirchentag in Nürnberg hat der evangelische Pfarrer Quinton Caesar beim Abschlussgottesdienst eine eindrucksvolle und sehr umstrittene Predigt gehalten. „Jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer“ war eine seiner Kernbotschaften, die nicht nur zustimmend aufgenommen wurde, sondern Hasskommentare und wahre Shitstorms in den sozialen Medien auslöste. Ich bin ihm sehr dankbar für diesen pointierten und mutigen Impuls. Denn er legt den Finger in die Wunde unserer Gesellschaft, die sich als offen und plural versteht. Ich bin überzeugt davon, dass der Umgang mit queeren und anders anderen Menschen ein Lackmustest ist für die Frage, wie die Gesellschaft mit denen umgeht, die aus irgendeinem Grund fremd und anders sind. Queer, so lautet die treffende Definition der evangelischen Theologin Kerstin Soederblom, bedeutet nämlich, dass alle anders anders sind und sein dürfen.  Und das sind wir, so würde ich als Christin sagen, weil wir als Menschen Ebenbild Gottes sind, des Ganz-Andere, der alle unsere Kategorien übersteigt und sprengt, und in dem wir in all unserer Verschiedenheit eins sind.
Hilke Wiegers: Eine gern wiederholte Forderung kirchenkritischer Stimmen ist ja die Abschaffung von „überflüssiger“ religiös fundierter Feiertage wie des Karfreitags oder des Ostermontags. Welche Argumente können Sie dem entgegensetzen?
„Religiöse Feiertage sind Atempausen in einer atemlosen Welt.“
Pröpstin Henriette Crüwell: Religiös fundierte Feiertage sind zuerst einmal freie Tage, Unterbrechungen des Alltags also. Eines Alltags, in dem sich immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft müde, erschöpft und ausgebrannt fühlen vom immer mehr, immer schneller, immer besser. Religiöse Feiertage sind Atempausen in einer atemlosen Welt. Und das nicht nur für jene, die sie als religiöse Feiertage begehen, sondern für die ganze Gesellschaft. Sie sind über-flüssig im besten Sinne des Wortes, weil sie mehr sind als bloße Regenationszeiten, die Akkus wieder aufzuladen, um dann noch besser, schneller und mehr zu machen. Diese „überflüssige“ Tage halten im Bewusstsein, dass wir Menschen mehr sind als Leistungsträger und Konsumentinnen.
Hilke Wiegers: Sie waren kürzlich im Rahmen einer Studienreise in den Niederlanden. Dort verzeichnen die Konfessionen einen noch größeren Mitgliederrückgang als in Deutschland. Wie geht man dort mit diesem Trend um und welche Erkenntnisse in Bezug auf die Haltung des niederländischen Staates zu diesem Trend konnten Sie mitnehmen?
Pröpstin Henriette Crüwell: Mich hat fasziniert, dass die Frage nach Gott auch in einer so durch und durch säkularisierten Gesellschaft nicht verstummt. Im Gegenteil. Sie wird in den Niederlanden an anderen Orten als in Kirchen, Tempeln, Gebetshäusern und stillen Kämmerlein laut. So bekennen sich z.B. viele der Fußballnationalspieler dazu, dass sie gemeinsam in der Bibel lesen. Mit einem Plakat, auf dem sie sich die Ohren zuhalten, machen sie auf sich und das, woran sie glauben, aufmerksam: „Deaf for the opinion of the world, only listening to god,” steht darunter. “Sei taub für die Meinung der Welt und hör allein auf Gott”, so lautet ihr Bekenntnis. Das ist ein starkes Zeugnis und wird von vielen wahrgenommen. Die niederländische Gesellschaft hat außerdem erkannt, dass ihnen als Gesellschaft was fehlt, wenn die Kirchen keine öffentlichen Räume mehr sind. Sie hat sie neu als ihr kulturelles Erbe und als so genannte dritte Orte wiederentdeckt, wo sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und Prägung frei begegnen können. So beherbergt eine gotische Kirche nun eine öffentliche Bibliothek, eine andere ist zum Museum geworden und wieder eine andere zu einem Café. Diese Gebäude mit ihren überhohen Mauern sind steingewordene Freiräume mitten im Gedränge des Alltags und sie bezeugen auf ihre Weise, dass Religion nicht ins stille Kämmerlein gehört.